WISSENSWERTES | 26.11.2018

Paukenschlag im Prozessrecht – Bundesverfassungsgericht für Waffengleichheit im Einstweiligen Verfügungsverfahren

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In zwei aktuellen, erst am 26. Oktober 2018 bekannt gewordenen Entscheidungen vom 30. September 2018 (1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Praxis vieler Gerichte beim Erlass einstweiliger Verfügungen ohne mündliche Verhandlung auf den Prüfstand gestellt und in wesentlichen Punkten für verfassungswidrig erklärt. Das wird zu einem Umdenken sowohl in der gerichtlichen als auch in der anwaltlichen Praxis führen müssen.
 

Fragwürdige Beschlussverfügungen im Presserecht

Beide Verfahren betrafen Sachverhalte aus dem Presserecht, in dem einstweilige Verfügungen die Regel sind. Im ersten Fall ging es um die dort häufig anzutreffende „Unsitte“, gerichtliche Entscheidungen ohne vorherige Anhörung der Gegenseite zu treffen. Zwar sieht das Prozessrecht in § 937 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)  auch den Erlass sog. Beschlussverfügungen vor, also von Entscheidungen im Beschlussweg ohne vorherige mündliche Verhandlung. Allerdings muss dabei sichergestellt sein, dass der Antragsgegner sich wenigstens vorgerichtlich zum Fall äußern konnte. Häufig geschieht das im Rahmen der Antwort auf eine Abmahnung, die dem Gericht nach der klaren Ansage des BVerfG aber tatsächlich vorliegen muss. Das war in dem vom BVerfG entschiedenen auf Unterlassung gerichteten Verfahren jedoch nicht der Fall. Zudem fordert das BVerfG, dass die vorgerichtlich und die bei Gericht begehrte Unterlassung identisch sind. In beiden Fällen fehle es sonst an der erforderlichen Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung gegenüber dem Antragsgegner.
 
Im zweiten Fall ging es um eine Entscheidung über den per se besonders eilbedürftigen Abdruck einer Gegendarstellung. Dort hatte das Gericht sogar – leider ist auch das nicht unüblich – dem Antragsteller ohne Kenntnis des Antragsgegners und noch dazu in II. Instanz so lange und mehrfach richterliche Hinweise gegeben, bis er einen zulässigen und begründeten Antrag stellen konnte. Das Ergebnis war eine Verurteilung zum Abdruck einer Gegendarstellung per Beschluss durch die II. Instanz mehr als vier Monate nach Zugang des ersten Gegendarstellungsverlangens. Das BVerfG nahm einen Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit an, weil die gerichtlichen Hinweise dem Antragsgegner nicht jeweils unverzüglich mitgeteilt wurden und ihr Inhalt im Nachhinein nicht aus der Akte erkennbar war. In einem solchen Fall kann regelmäßig auch nicht mehr von einer derartigen Eilbedürftigkeit ausgegangen werden, dass nicht doch mündlich verhandelt werden könnte.
 
In beiden Sachen erkannte das BVerfG zusätzlich eine Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Dieser ist jedoch – anders als Verstöße gegen die prozessuale Waffengleichheit bzw. den Grundsatz eines fairen Verfahrens – noch im Nachhinein mit Durchführung der mündlichen Verhandlung, etwa auf einen Widerspruch hin, heilbar.
 

Beachtung der Verfahrensgrundrechte – klare Vorgabe für die Instanzgerichte

Der Erlass einstweiliger Verfügungen ohne mündliche Verhandlung bleibt weiterhin zulässig. Die Praxis einiger Gerichte, die bisher insbesondere im Äußerungsrecht zum Tragen kam, wird sich nach den Entscheidungen des BVerfG jedoch ändern müssen. Das dürfte nicht auf das Presserecht begrenzt bleiben, sondern generell bei der Beantragung bzw. dem Erlass einstweiliger Verfügungen zu beachten sein. Daraus ergeben sich nicht nur Konsequenzen für das Gericht, wie etwa eine angemessene Dokumentation gerichtlicher Hinweise, sondern auch für die anwaltlich vertretenen Antragsteller. Diese Entwicklung ist zu begrüßen. Sie sollte zur Wiederherstellung eines über die Jahre verloren gegangenen prozessualen Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien führen. Das war gerade auch wegen des sog. „fliegenden Gerichtsstands“, der Möglichkeit der Wahl des Gerichtsstands durch den Antragsteller, besonders im Presserecht, aber auch Wettbewerbsrecht (UWG), dem Urheberrecht und zumindest in Teilen des gewerblichen Rechtsschutzes über die Jahre gehörig aus den Fugen geraten.


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