WISSENSWERTES | 27.05.2019

EuGH – Umfassende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeit?

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In ihrer Entscheidung vom 14. Mai 2019 hat die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C – 55/18 darauf erkannt, dass – so die Pressemitteilung Nr. 61/19 des Gerichtshofs – die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Das Urteil hat äußerst kontroverse Reaktionen ausgelöst, von begeisterter Zustimmung insbesondere seitens der Gewerkschaften und der betrieblichen Arbeitnehmervertreter bis hin zur vehementen Ablehnung seitens der Arbeitgeberverbände, die von einer „Rechtsprechung 1.0 in Zeiten einer Industrie 4.0“ sprechen. Was war geschehen?
 

Die rechtliche Ausgangssituation

Rechtliche Basis des auf eine Vorlage durch den Nationalen Gerichtshof Spaniens (Audiencia National) zurückgehenden Verfahrens sind Art. 31 EU-Grundrechte-Charta sowie mehrere Bestimmungen der Richtlinien 89/391/EWG v. 12.06.1989 und 2003/88/EG v. 04.11.2003. Gemäß Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta haben jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub. Die Bestimmungen der genannten Richtlinien enthalten wiederum Zielsetzungen, die der Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit dienen und welche „keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen“ (Erwägungsgrund 4 der RL 89/391/EWG). Im Einzelnen werden eine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums (Art. 3 RL 2003/88/EG), daneben eine wöchentliche Ruhezeit von durchgehend mindestens 24 Stunden (Art. 5) und eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit, die 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreiten darf (Art. 6 RL), vorgeschrieben. Nach den Bestimmungen der RL 89/391/EWG haben die Mitgliedstaaten die für die Gewährleistung der vorgenannten Rechte notwendigen Vorkehrungen zu treffen, u. a. die Arbeitgeber durch entsprechende Rechtsvorschriften dazu zu verpflichten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer Sorge zu tragen. Der deutsche Gesetzgeber ist den sich aus den Richtlinien ergebenden Verpflichtungen insbesondere mit den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) bzw. durch entsprechende Anpassungen einzelner Vorschriften nachgekommen.
Der spanische Gesetzgeber hat die Richtlinien u. a. durch Erlass des Arbeitsnehmerstatuts (Estatuto de los Trabajadores) vom 23.Oktober 2015 umgesetzt. Dessen Art. 34 („Arbeitszeit“) sieht – vorbehaltlich tarifvertraglicher Abweichungen – eine tägliche Höchstarbeitszeit von neun Stunden, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 40 Stunden im Jahresdurchschnitt und eine Ruhezeit von mindestens zwölf Stunden vor. Darüber hinaus geleistete Arbeitsstunden stellen gem. Art. 35 Überstunden dar, wobei die Gesamtzahl der Überstunden 80 Stunden jährlich nicht überschreiten darf. Eine Besonderheit gegenüber deutschem Recht: Sowohl der jeweilige Arbeitnehmer als auch die Arbeitnehmervertreter (Gewerkschaftsvertreter bzw. Betriebsräte) haben einen Anspruch auf eine monatliche Aufstellung der geleisteten Arbeitsstunden nebst Überstunden (Art. 35 Abs. 5).
 

Der Fall

Im Rahmen einer Verbandsklage begehrte die Arbeitnehmervereinigung CCOO im Jahr 2017 vor dem Audiencia National die Feststellung, dass die beklagte Arbeitgeberin verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten, mit dem die Einhaltung zum einen der vorgesehenen Arbeitszeit und zum anderen der Verpflichtung, die Gewerkschaftsvertreter über die monatlich geleisteten Überstunden zu unterrichten, überprüft werden könne. Die entsprechende Verpflichtung hierzu ergäbe sich aus dem Arbeitnehmerstatut i.V.m. den Vorgaben der EU-Grundrechte-Charta sowie den Bestimmungen der Richtlinien 89/391/EWG und 2003/88/EG. Die Beklagte verfügte nicht über ein solches System, sondern erfasste nur ganztägige Fehlzeiten oder sonstige freie Tage ihrer Mitarbeiter. Einer Aufforderung der staatlichen Inspektion für Arbeit zur Implementierung eines die tägliche Arbeitszeit erfassenden Systems war sie zuvor nicht nachgekommen, die aus diesem Grund gegen sie verhängte Sanktion war vom Berufungsgericht Tribunal Supremo dann jedoch in einem vorangegangenen Verfahren u.a. deshalb aufgehoben worden, weil nach Auffassung der Berufungsrichter Art. 35 des Arbeitnehmerstatuts nur eine Aufzeichnung der Überstunden vorschreibe.
Da das Eingangsgericht Zweifel an der Vereinbarkeit der Rechtsprechung des Tribunal Supremo mit dem dargestellten Unionsrechts hegte, hat es den Fall dem EuGH vorgelegt und Auskunft auf die Frage begehrt, ob die Bestimmungen in Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts in der Auslegung durch das Tribunal Supremo Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta i. V. m. den Bestimmungen der genannten Richtlinien entgegenstehen.
 

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH weist einleitend darauf hin, dass das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten nicht nur eine Regel des Sozialrechts der Union mit besonderer Bedeutung, sondern auch in Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta verbürgt sei, dem gem. Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen selbst zukomme. Um sicherzustellen, dass dieses Grundrecht auch beachtet wird, dürften die Bestimmungen der genannten Richtlinien nicht restriktiv ausgelegt werden.
Nach dieser Klarstellung hebt der EuGH hervor, dass durch die RL 2003/88/EG Mindestvorschriften festgelegt wurden, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Die Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung bezwecke, einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer durch die Gewährung u.a. von täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen zu erreichen sowie eine Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit vorzusehen. Die Mitgliedstaaten müssten daher nach Art. 3 und 5 der RL 2003/88/EG die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden und pro Siebentagezeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gewährt wird. Darüber hinaus verpflichte Art. 6 der RL 2003/88/EG die Mitgliedstaaten, für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit eine Obergrenze von 48 Stunden vorzusehen, wobei zugleich klargestellt wird, dass diese Obergrenze Überstunden einschließt. Die Mitgliedstaaten müssen daher – so der EuGH – die Beachtung dieser Mindestruhezeiten gewährleisten und jede Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit verhindern.
Eine nationale Regelung, die keine Verpflichtung vorsieht von einem Instrument Gebrauch zu machen, mit dem die Zahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden objektiv und verlässlich festgestellt werden kann, ist nach Ansicht des Gerichts nicht geeignet, die praktische Wirksamkeit der in der EU-Grundrechte-Charta und den Richtlinien verliehenen Arbeitnehmerrechte sicherzustellen. Allein die Erfassung der Überstunden genüge diesen Anforderungen nicht, da die Einstufung als „Überstunde“ voraussetze, dass die Dauer der von dem jeweiligen Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit bekannt ist und somit zuvor gemessen wurde. Auch setze die Ermittlung der vorgeschriebenen täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten die objektive und verlässliche Feststellung der täglichen Arbeitszeit voraus.
Es obliegt nach den Feststellungen des EuGH den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines hierfür geeigneten Systems festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe. Das gilt unbeschadet der den Mitgliedstaaten in Art. 17 Abs. 1 der RL 2003/88/EU eröffneten Möglichkeit, Ausnahmen hiervon zuzulassen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.
 

Praktische Konsequenzen

Ob mit der aktuellen Entscheidung des EuGH tatsächlich das „Ende der Vertrauensarbeit“ angebrochen ist, dürfte abzuwarten bleiben. Sicher ist aber, dass die nationalen, mit Fragen der Arbeitszeit befassten Gerichte, in Deutschland also vorrangig die Verwaltungs- und Arbeitsgerichte, bei der Rechtsanwendung künftig die Vorgaben des EuGH zu berücksichtigen und ihre Auslegung nationalen Arbeitszeitrechts am Wortlaut und Zweck der genannten Richtlinien auszurichten haben werden.
Die bisherige Rechtsprechung und herrschende Lehre, wonach lediglich Überstunden sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen zu dokumentieren ist, wird nicht aufrecht zu erhalten sein. Und auch die bestehenden Kollektivvereinbarungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen werden zu überprüfen sein, auch wenn diese regelmäßig nur die Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen und nicht im arbeitsschutzrechtlichen Sinne behandeln.
Ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber gefordert ist, dürfte letztlich davon abhängen, inwieweit es der Rechtsprechung gelingt, das geltende Recht – welches eine umfassende Erfassung der Arbeitszeit ja nicht untersagt – mit den Zielen der Richtlinien und den Vorgaben des EuGH in Einklang zu bringen. Mit der Implementierung neuer bzw. modifizierter Zeiterfassungssysteme verbundene Kosten werden, entgegen der bisherigen Intention des deutschen Gesetzgebers, kein Argument gegen eine Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit sein, da der wirksame Schutz der Sicherheit und der Arbeitnehmergesundheit ausweislich der Entscheidung des EuGH nicht „rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet“ werden darf.


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