WISSENSWERTES | 16.09.2025
EuGH: Arbeitgeber müssen Arbeitnehmer mit behinderten Kindern unterstützen
Schwerbehinderte Menschen sind im Arbeitsverhältnis durch das SGB IX besonders geschützt. Sie unterfallen einem besonderen Kündigungsschutz, haben einen zusätzlichen Urlaubsanspruch von fünf Tagen und können vom Arbeitgeber verlangen, die Arbeit so zu organisieren, dass sie leidensgerecht ist.
Richtlinie 200/78/EG zum Schutz schwerbehinderter Menschen
Grundlage dieser Schutzvorschriften ist die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
Diese regelt in Art. 5, dass Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Eine Ausnahme gilt, sofern diese Maßnahmen den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.
EuGH: Richtlinie ist nicht auf schwerbehinderte Arbeitnehmer begrenzt
Mit Urteil vom 11. September 2025, Az. C-38/24, hat der EuGH entschieden, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht auf schwerbehinderte Arbeitnehmer begrenzt ist.
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall bat eine als Stationsaufsicht tätige Mutter ihren Arbeitgeber mehrfach darum, sie auf einem festen Arbeitsplatz am Vormittag einzusetzen. Sie begründete das mit der Notwendigkeit der Versorgung ihres schwerbehinderten, vollinvaliden Sohnes. Der Arbeitgeber genehmigte eine befristete Anpassung der Arbeitszeiten, lehnte es jedoch ab, ihr diese dauerhaft zu gewähren. Dagegen klagte die Mutter vor den italienischen Gerichten.
Der italienische Kassationshof legte dem EuGH den Rechtsstreit vor und bat um Entscheidung darüber, ob die Richtlinie 2000/78/EG auch auf Personen Anwendung finde, die selbst keine Schwerbehinderung hätten, sich aber auf eine mittelbare Diskriminierung berufen.
Verbot mittelbarer Diskriminierung
Der EuGH betonte, die Richtlinie habe zum Ziel, jede Diskriminierung wegen einer Behinderung zu unterbinden. Daher gelte das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung auch für Arbeitnehmer, die wegen der Unterstützung eines behinderten Kindes diskriminiert würden.
Unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber
Arbeitgeber müssen damit angemessene Vorkehrungen treffen, um Arbeitnehmern mit behinderten Kindern die erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Arbeitgeber dadurch unverhältnismäßig belastet würde.
Praxistipp
Der EuGH hat keine Kriterien angegeben, wann die Grenze zur nicht mehr verhältnismäßigen Unterstützung überschritten ist. Dies hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Praxis wird es voraussichtlich vor allem um die Anpassung der Arbeitszeiten gehen, die der betroffene Arbeitnehmer benötigt, um der Betreuungspflicht nachkommen zu können.
Arbeitgeber sollten entsprechende Anliegen von Arbeitnehmern mit behinderten Kindern oder sonstigen engen zu betreuenden Verwandten ernst nehmen und versuchen, ihr Arbeitszeitmodell entsprechend anzupassen.