WISSENSWERTES | 13.02.2019

Berliner Kitagesetz verletzt Rechte von Eltern und freien Trägern

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Seit dem 1. September 2018 sind in Berliner Kindertageseinrichtungen (Kitas) Vereinbarungen über Zusatzbeiträge für von Eltern gewünschte Zusatzleistungen nur noch bis zu einem Betrag von 90,00 Euro zulässig. Außer dem separat zu zahlenden Mittagessen sind im Übrigen die Eltern von den Kosten der Kinderbetreuung in einer Kita vollständig befreit.

 

Diese auf den ersten Blick erfreulich anmutende Nachricht schränkt verfassungsrechtlich garantierte Rechte von Eltern und anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe ganz erheblich ein und wird – sollte sie Bestand haben, zu einem Rückgang der Angebote zu Lasten von Kindern und Eltern sowie der Vielfalt in der Trägerlandschaft führen. Damit setzt sich ein bundesweit zu beobachtender Trend fort, der vor allem durch die zu weit in die auf Bundesebene explizit geschützten Rechte der Eltern, aber auch der freien Träger eingreift und diese – häufig über das zulässige Maß hinaus – beschneidet.

 

Gesetzliche Regelungen auf Bundesebene

Für alle Bundesländer gleichermaßen gelten die Vorgaben des SGB VIII, die im Kita-Bereich „Leitplanken“ sowohl für die Rechte der Eltern und Kinder als auch für die Rechte der freien Träger bilden.

 

Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz

Zunächst gilt bundesweit der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nach § 24 SGB VIII, der z.B. nach Auffassung der OVGs Berlin-Brandenburg
und Sachsen nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten besteht, sondern verpflichtet, die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen. Fachkräftemangel oder Haushaltsschieflagen schützen nicht vor der Pflicht des Staates, einen dem individuellen Bedarf gerecht werdenden Betreuungsplatz anzubieten.

 

Wunsch- und Wahlrecht

Daneben gilt das Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII. Es besagt, dass Eltern und Kinder das Recht haben, zwischen Einrichtungen verschiedener Träger zu wählen und Wünsche zu äußern. Auch zu Gunsten der freien Träger bestimmt darüber hinaus § 3 I SGB VIII eine Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen (sogenannte Pluralität der Kinder- und Jugendhilfe). Das Wahlrecht setzt voraus, dass eine Einrichtung bereits vorhanden ist. Das Wunsch- und Wahlrecht zeigt den wettbewerbsrechtlicher Charakter der Kinder- und Jugendhilfe. Die freien Träger können in Qualität und Kosten in einem regulierten Markt konkurrieren.

 

Vorrang von Einrichtungen in freier Trägerschaft

Zu Gunsten der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe (und mittelbar zu Gunsten der Eltern und Kinder) besteht zudem ein Vorrang von Einrichtungen in freier Trägerschaft (§ 4 II SGB VIII). § 4 Abs. 2 SGB VIII bestimmt, dass „die öffentliche Jugendhilfe“ von Maßnahmen absehen soll, soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können. Dies kann nicht umgangen werden, indem die öffentliche Hand (Kommune oder Träger der Jugendhilfe) Verträge mit den freien Träger kündigt. Gegen eine solche Kündigung können beanstandungsfrei arbeitende freie Träger sich wehren.

 

Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger

Darüber hinaus soll die öffentliche Jugendhilfe die freie Jugendhilfe fördern und stärken (§ 4 Abs. 3 SGB VIII). Dies wird konkretisiert durch die Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger für ein flächendeckendes und zugängliches Angebot (§ 79 SGB VIII). Dabei haben diese die Selbständigkeit der freien Träger zu berücksichtigen (§ 75 SGB VIII). Die Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger nach § 79 I SGB VIII umfasst die Garantie dafür, dass alle im Gesetz vorgesehenen Leistungen gewährt und tatsächlich erfüllt werden können (sog. jugendhilferechtliche Garantenstellung des öffentlichen Jugendhilfeträgers). Diese Verantwortung besteht auch dann, wenn Teile der Aufgaben durch freie Träger erfüllt. Der öffentliche Träger trägt die Planungsverantwortung (§ 79 I SGB VIII) und die Gewährleistungspflicht (§ 79 II Nr. 1 SGB VIII). Der öffentliche Träger muss sicherstellen, dass zur Erfüllung der Aufgaben die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen den verschiedenen Grundrichtungen der Erziehung entsprechend rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen (§ 79 II 1 SGB VIII).

 

Finanzierungsverantwortung der öffentlichen Träger

Die Finanzierung der Kindertageseinrichtungen zwischen öffentlichem und freiem Träger richtet sich gemäß § 74 a SGB VIII nach dem jeweiligen Landesrecht. Das BVerwG hat allerdings bereits 2010 klargestellt, dass die Landesgesetzgeber an die bundesgesetzlich geregelten materiellen Ziele und Grundsätze der Jugendhilfe gebunden sind. Hierzu gehört auch die Sicherung der Trägervielfalt und der Erfüllung der (primär hoheitlichen) Aufgabe der Kinderbetreuung.

 

Berliner Modell

In Berlin bestimmen Kindertagesförderungsgesetz (KitaFöG) und Kindertagesbetreuungskostenbeteiligungsgesetz (TKBG) die Rechtslage. Gem. § 23 I KitaFöG soll die Finanzierung von Tageseinrichtungen der Träger der freien Jugendhilfe auf Grundlage einer landesweiten Leistungsvereinbarung erfolgen. Die Kostenerstattung setzt voraus, dass der Träger der Einrichtung der Leistungsvereinbarung beigetreten ist (§ 23 III Nr. 2 KitaFöG). Die LIGA der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Berlin, der Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden e. V. (DaKS) und das Land Berlin haben die Rahmenvereinbarung über die Finanzierung und Leistungssicherstellung der Tageseinrichtungen (Rahmenvereinbarung – RV Tag) abgeschlossen. Die Höhe regeln die jeweils einschlägigen Kostenblätter, die Teil der Rahmenvereinbarung sind. Die Gesamtkosten pro Platz sind je nach dem Alter der Kinder, dem Betreuungsumfang und zusätzlichen Förderleistungen ausgewiesen, wobei Kosten pauschal ermittelt und festgesetzt worden sind. Die Sachkostenpauschale berücksichtigt abschließend alle Aufwendungen des Trägers für Reinigung, Verpflegung (einschl. Getränke), Betriebsbewirtschaftung, Gebäude- und Grundstück/Außenanlagen einschl. Spielgeräte, Verwaltung und Qualitätsmanagement/Evaluation. Die Träger sind zu einem Eigenanteil in Höhe von 5% verpflichtet. Eine Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten und der Finanzausstattung des freien Trägers erfolgt nicht.

 

Verfassungsrechtliche Komponenten

Die freien Träger sind geschützt durch das Grundrecht auf Freiheit der Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG, der bei Selbständigen neben anderem die Freiheit beim Abschluss von Verträgen schützt und die Freiheit, Preise selbst festzulegen und zu verhandeln. Die Vertragsfreiheit ist von Art. 12 Abs. 1 GG geschützt, wenn eine gesetzliche Regelung sie gerade im Bereich beruflicher Betätigung betrifft. Die Berufsausübungsfreiheit von freien Trägern in Berlin wird schon durch die gesetzliche Bestimmung der Obergrenze von Zusatzleistungen auf 90,00 EUR beschnitten. Zusätzlich machen § 23 Abs. 7 und 8 KitaFöG Vorgaben zur Nachweispflicht gegenüber den Eltern und den Behörden. Gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 5 KitaFöG muss im Betreuungsvertrag ein ausdrücklicher Hinweis auf ein jederzeitiges Sonderkündigungsrecht der Zusatzleistungen enthalten sein.

 

Damit können freie Träger nicht mehr autark über zusätzliche Angebote und die hierfür zu zahlenden Entgelte entscheiden und sind in ihrer Vertragsfreiheit eingeschränkt. Sofern der freie Träger doch die Obergrenze von 90,00 EUR überschreitet, kann der öffentliche Träger sogar die Kostenerstattung kürzen oder gar einstellen und die Leistungsverträge kündigen. Dies stellt einen Eingriff in pädagogische und ökonomische Konzepte der freien Träger dar, die gerade die gesetzlich gewünschte Trägervielfalt ausmachen. Letztlich werden zusätzliche Angebote, wegen derer sich im Einzelfall die Eltern gerade für die Einrichtung eines bestimmten freien Trägers entscheiden, gesetzlich untersagt, jedenfalls immer dann, wenn der hierfür erforderliche und vereinbarte Betrag die Obergrenze von 90,00 EUR übersteigt.

 

Die schränkt nicht nur die Vertragsfreiheit von Eltern und freien Trägern eine, sondern stellt das pädagogische Konzept vieler Einrichtungen mit zusätzlichen Leistungen und Angeboten generell und fundamental in Frage. Freie Träger mit einer Breite zusätzlicher Leistungen, etwa auf sprachlichem, sportlichem, kreativem oder auch naturwissenschaftlichem Gebiet müssten nach den Vorgaben der Berliner Regelungen diese – auch wenn die Eltern die Angebote weiter wünschen – auf eine „Grundversorgung“ zurückfahren, da weder eine Refinanzierung durch den öffentlichen Träger noch durch die Eltern erfolgen wird, sondern über dem Betrag von 90,00 EUR sogar verboten ist. Damit wird massiv auch in die Rechte der Eltern aus Art. 6 Abs.2 Satz 1 GG eingegriffen. Eltern werden durch die gesetzlichen Vorgaben faktisch gehindert, Zusatzangebote der freien Träger nach ihren Erziehungsvorstellungen zur Verfügung zu haben und zu nutzen und selbst zu entscheiden, in welchem Umfang sie Zusatzangebote für ihre Kinder wünschen.

 

Neben der Trägervielfalt und den Rechten der Eltern (hier einmal unbesehen der Folgen für die Entwicklung der Kinder) wird damit die freie berufliche Tätigkeit der freien Träger eingeschränkt und beschnitten unterbunden. Freie Träger werden sich von ihren – teilweise jahrelang bewährten und von den Eltern geschätzten pädagogischen und wirtschaftlichen Konzepten verabschieden müssen.

 

Diese Eingriffe dürften die Grenzen des verfassungsrechtlich zulässigen überschreiten. Denn sonst müssten die Regelungen den Grundsätze des SGB VIII entsprechen und sowohl der Trägerautonomie, der Trägervielfalt und dem Wunsch- und Wahlrecht der Eltern Rechnung tragen.

 

Als gesetzgeberischer Zweck für die kritischen Regelungen benennt der Gesetzgeber den „Schutz der Eltern vor ungewollten Zuzahlungen“. Hierzu sind die Eltern aber bereits durch das Wunsch- und Wahlrecht und waren zudem durch die Vorgängerregelungen ausreichend geschützt, nach denen ein freier Träger einen Betreuungsvertrag nicht von der Vereinbarung einer Zuzahlungen abhängig machen durfte und die Eltern bei Kündigung der Zusatzleistungen einen Anspruch auf Erhalt des Platzes hatten.

 

Fazit

Die Neuregelungen für Berliner Kitas versprechen eine bessere Betreuungssituation und eine Kostenentlastung der Eltern. Faktisch werden sie stattdessen die Rechte der Eltern auf Wahl einer Einrichtung mit besonderem pädagogischen Konzept beschneiden. In die Rechte der freien Träger wird massiv eingegriffen, denn sie werden mit den gesetzlichen Vorgaben gezwungen, ihre Konzepte und ihre Tätigkeit an der Obergrenze für Zusatzleistungen in Höhe von 90,00 EUR anzupassen. Gerade für freie Träger mit einem breiten Angebot an pädagogischen Angeboten bedeutet dies einen Strukturwandel mit erheblichen Folgen. Alternativ bleibt den freien Trägern, ihr Konzept komplett auf eine Eigenfinanzierung umzustellen; damit entzieht sich die öffentliche Hand ihrer Finanzierungsverantwortung und das Gesetz konterkariert seinen hochgehaltenen Zweck: ohne staatliche Beteiligung steigen die von den Eltern zu übernehmenden Kosten erheblich, wenn die Eltern nicht ihre Kinder in einer Einrichtung unterbringen. Dies ist nicht nur Theorie, sondern bereits von einigen Trägern gelebte Praxis (Beispiel: hier)

 

Der Gesetzgeber hat damit nicht nur die Grundsätze des SGB VIII ausgehöhlt, sondern schafft aktiv die Trägervielfalt in erheblichem Umfang ab. Er dürfte damit die ihm zustehenden gesetzgeberischen Grenzen deutlich überschritten haben.


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