WISSENSWERTES | 07.03.2016
„Treaty Override“ im Steuerrecht zulässig
Der Gesetzgeber ist auch dann nicht am Erlass eines Gesetzes gehindert, wenn es zu völkerrechtlichen Verträgen i.S.v. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) im Widerspruch steht. Diese Verträge haben nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem jüngst veröffentlichten Beschluss vom 15. Dezember 2015 auf Vorlage des Bundesfinanzhofes (BFH) zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei aus dem Jahr 1985 (DBA-Türkei 1985) entschied, muss der Gesetzgeber solche Verträge auch revidieren können (Beschluss Bundesfinanzhof, Az. 2 BvL 1/12).
Doppelbesteuerung versus „Keinmalbesteuerung“
Im Ausgangsverfahren eines Ehepaares hatte der Ehemann teils in Deutschland, teils in der Türkei Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit erzielt. Die Eheleute hatten beantragt, die in der Türkei erzielten Einkünfte nach den Regelungen des DBA-Türkei 1985 steuerfrei zu belassen. Danach konnten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Personen in der Türkei erzielen, von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen werden. Da das Ehepaar jedoch nicht gemäß § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG nachgewiesen hatte, dass die in der Türkei erzielten Einkommensbestandteile dort versteuert worden waren oder die Türkei auf die Besteuerung verzichtet hatte, behandelte das Finanzamt den gesamten Bruttoarbeitslohn als steuerpflichtig. Die Klage zum Finanzgericht blieb erfolglos. Der BFH setzte das daraufhin von den Eheleuten eingeleitete Revisionsverfahren mit Beschluss vom 10. Januar 2012 (Beschluss Bundesfinanzhof, Az. I R 66/09) aus und fragte das BVerfG nach der Vereinbarkeit von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG mit dem GG, soweit dieser dem DBA-Türkei 1985 widerspricht.
Meinungswandel beim BFH: Vorrang des Völkerrechts
Diese Vorlage war eine Kehrtwende in der Rechtsprechung des BFH, denn bis dahin hatte es der BFH stets für zulässig gehalten, dass der Gesetzgeber völkerrechtliche Verträge über die Vermeidung einer Doppelbesteuerung „überschreibt“, sich also über diese hinwegsetzt, wenn er das nur hinreichend deutlich macht (sog. „Treaty Override“). Die gesetzliche Neuregelung verhindere in solchen Fällen, dass ein Steuerpflichtiger in beiden Vertragsstaaten unbesteuert bleibt und sog. „weiße Einkünfte“ entstehen. Auch bei dem nach Abschluss des DBA-Türkei 1985 in Kraft getretenen § 50d Abs. 3 Satz 1 EStG handelte es sich der Sache nach um einen „Treaty Override“ zur Verhinderung einer doppelten Nichtbesteuerung („Keinmalbesteuerung“).
Diese Regelung hielt der 1. Senat des BFH nun aber für verfassungswidrig. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG sei der Gesetzgeber nämlich verfassungsrechtlich verpflichtet, die Europäische Menschenrechtskonvention zu beachten. Diese Pflicht sollte sich nach Auffassung des BFH auf das gesamte Völkervertragsrecht beziehen. Dieser Meinungswandel hätte zur Folge, dass der Gesetzgeber eine Nichtbesteuerung nur dann verhindern kann, wenn die Vertragspartner das betreffende Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) nachträglich ändern.
Die Entscheidung des BVerfG: Demokratieprinzip geht vor
Hingegen entschied der 2. Senat des BVerfG in einem Mehrheitsvotum, dass die Revidierung eines DBA durch ein innerstaatliches Gesetz verfassungsrechtlich zulässig ist. Völkerrechtlichen Verträgen komme nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, soweit sie nicht in den Anwendungsbereich speziellerer Öffnungsklauseln (z. B. Art. 1 Abs. 2, 23, 24 GG) fallen, innerstaatlich nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu. In diesem Fall verlange das Demokratieprinzip, dass spätere Gesetzgeber die Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber „überschreiben“ können: „Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Dies impliziert, dass spätere Gesetzgeber – entsprechend dem durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes – innerhalb der vom GG vorgegebenen Grenzen Rechtssetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können müssen“.
Etwas anderes folge weder aus dem Rechtsstaatsprinzip, auf das sich die Richterin Doris König in einem abweichenden Votum berufen hat, noch aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG. Auch dieser habe zwar Verfassungsrang, beinhalte jedoch keine Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen. Insoweit stellt das BVerfG auch unter Bezugnahme auf seinen Görgülü-Beschluss zur Geltung der EMRK vom 14. Oktober 2004 (Beschluss Bundesverfassungsgericht, Az. 2 BvR 1481/04) klar, in diesem Beschluss nicht entschieden zu haben, dass der Gesetzgeber nur zur Wahrung tragender Verfassungsgrundsätze von völkerrechtlichen Verträge abweichen dürfe. Mache der spätere Gesetzgeber von der Möglichkeit Gebrauch, sich kraft seiner nach Auffassung des BVerfG stärkeren demokratischen Legitimation über das Zustimmungsgesetz des früheren Gesetzgebers zu einem völkerrechtlichen Vertrag hinwegzusetzen, könne er damit zwar gegen die völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands verstoßen. Innerstaatlich gelte dennoch das spätere Gesetz.
Fazit: Vorsicht bei DBA
Auch künftig muss der für Körperschaftssteuer, Außensteuerrecht und Doppelbesteuerung zuständige 1. Senat des BFH steuerrechtliche Normen anwenden, die für die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sorgen, selbst wenn das mit einzelnen DBA nicht übereinstimmen sollte. Dies dürfte insbesondere auch für die in § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG geregelten „Treaty Overrides“ gelten, die ebenfalls auf die Verhinderung einer doppelten Nichtbesteuerung abzielen. Damit dürfte das Schicksal des weiteren Vorlagebeschlusses des 1. Senats des BFH zu § 50d Abs. 9 EStG vom 20. August 2014 (Vorlagebeschluss Bundesfinanzhof, Az. I R 86/13) besiegelt sein, in dem es um die Besteuerung eines bei einer irischen (Flug-)Gesellschaft angestellten deutschen Piloten geht.