WISSENSWERTES | 10.03.2023

EuGH – (Vor-)Informationspflichten des öffentlichen Auftraggebers gegenüber unterlegenen Bietern

In seinem Urteil vom 17. November 2022 (Rs. C-54/21 – Antea Polska) beschäftigt sich der EuGH mit der Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, seine Vergabeentscheidungen vorab dem unterlegenen Bieter gegenüber nachvollziehbar zu begründen. Die Pflicht zu dieser Vorinformation folgt aus Art. 2a Abs. 2 Unterabsatz 4 der EU-Richtlinie 89/665/EWG (Rechtsmittelrichtlinie) bzw. nach deutschem Recht aus § 134 GWB.

 

Die Entscheidung betrifft das Spannungsfeld zwischen Rechtsschutz des unterlegenen Bieters und Schutz betrieblicher Geheimhaltungsinteressen des erfolgreichen Mitbewerbers. In Teil 1 unseres Beitrags möchten wir Ihnen die Grundsätze darstellen, in Teil 2 sodann Details und Leitlinien des EuGH bei der konkreten Anwendung.

 

Ausgangspunkt: Mitteilungspflicht für alle wertungserheblichen Wettbewerberangebotsinhalte

 

Erstens: Der EuGH betont, dass der Auftraggeber im Ausgangspunkt verpflichtet ist, den unterlegenen Bieter über alle für die Vergabeentscheidung erheblichen Wertungserwägungen vorab zu informieren. Die Begründung muss es dem unterlegenen Bieter ermöglichen zu überprüfen, ob der Auftraggeber seine Vergabeentscheidung rechtmäßig getroffen hat.

 

Das schließt die korrekte Anwendung der bekannt gemachten Zuschlagskriterien ein. Der EuGH betont, dass der Auftraggeber dem unterlegenen Bieter dazu auch die relativen Vorteile des ausgewählten Angebots in der Begründung grundsätzlich mitzuteilen hat und dazu auch Angebotsinhalte des erfolgreichen Wettbewerbers offenbart werden müssen.

 

Diese Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers leitet der EuGH aus Art. 18 und 55 der Richtlinie 2014/24/EU (Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Transparenz), Art. 2 der bereits erwähnten Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG sowie aus dem unionsprimärrechtlichen Grundsatz der „Guten Verwaltung“ ab.

 

Zweiter Schritt: Beschränkungen der Offenlegungspflicht

 

Zweitens: Zugleich weist der EuGH darauf hin, dass europäisches Richtlinienrecht diesen Offenlegungspflichten auch Grenzen setzt.

 

Diese ergeben sich aus Art. 21 Abs. 1, Art. 50 Abs. 4 und Art. 55 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU sowie dem in der Richtlinie (EU) 2016/943 verankerten Grundsatz des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen.

 

(1) Enthält die offenlegungspflichtige Information ein Geschäftsgeheimnis?

 

Dafür orientiert sich der EuGH an der Definition aus Art. 2 Nr. 1 RL (EU) 2016/943. Der Auftraggeber muss die dort genannten drei Kriterien abprüfen und positiv feststellen. Der EuGH lässt es hingegen nicht ausreichen, dass der betroffene Bieter in seinem Angebot (oder anderweitig) pauschal behauptet, dass es sich um ein Geschäftsgeheimnis handelt. Die drei Geheimniskriterien der Richtlinie müssen nachweislich erfüllt sein.

 

In seiner Entscheidung versucht der EuGH dafür konkrete Angebotsinformationen einzuordnen, um die es in dem Fall des vorlegenden polnischen Gerichts ging. Diese können durchaus als Leitplanken herangezogen werden. Danach sind folgende Informationen regelmäßig nicht als Geschäftsgeheimnisse einzuordnen:

 

– Informationen des Bieters zu seiner Eignung, insbesondere Referenzaufträge zum Nachweis seiner Erfahrung/Fachkunde,
– Projektlisten,
– Unterlagen zu Eignungsnachweisen nach Anhang XII der Richtlinie 2014/24/EU.

 

(2) Ist die offenlegungspflichtige Information, auch wenn sie kein Geschäftsgeheimnis enthält, dennoch geheim zu halten, weil ihre Offenlegung den lauteren Wettbewerb zwischen den Unternehmen beeinträchtigen würde oder weil sie berechtigte geschäftliche Interessen eines öffentlichen oder privaten Wirtschaftsteilnehmers schädigen oder den Gesetzesvollzug behindern würde?

 

Auch hier kann man der Entscheidung Einordnungsversuche anhand konkreter Angebotsinhalte entnehmen und sich an diesen für die Einordnung anderer Unterlagen orientieren. Danach sind folgende Angebotsinhalte geheimschutzbedürftig / nicht geheimschutzwürdig – immer unter der Prämisse, sie beinhalten (noch) kein Geschäftsgeheimnis:

 

– Ja: (Leistungs-)Konzepte des erfolgreichen Bieters, die er im Rahmen seiner Bewerbung erarbeitet und mit dem Angebot eingereicht hat, soweit sie
schutzfähiges geistiges Eigentum darstellen. Die Urheberrechtsschutzfähigkeit und ihr Umfang sind zu prüfen.
 
– Nein: Teile von urheberrechtsgeschützten (Leistungs-)Konzepten, die nur Ideen, Verfahren, Arbeitsweisen oder mathematische Konzepte enthalten (nicht
urheberrechtsfähige Teile) – diese sind offenzulegen.
 
– Ja: (Leistungs-)Konzepte, die für sich genommen über die Bewerbung um den streitigen öffentlichen Auftrag hinaus einen wirtschaftlichen Wert haben, etwa
weil sie auch für andere Bewerbungen in späteren Vergabeverfahren genutzt werden können.
 
– Vielleicht: personenbezogene Daten zu den konkreten Mitarbeitern, die für die Ausführung des Auftrags vorgesehen und im Angebot benannt sind: Etwa wenn es
sich um ein eingespieltes Projektteam handelt.
 
– Vielleicht: personenbezogene Daten über im Angebot benannte Nachunternehmer: Etwa wenn es sich um eingespielte Kooperationen handelt.
 
– Nein: nicht personenbezogene Daten über für die Auftragsausführung vorgesehene Personen, Kooperationspartner und Nachunternehmer.

 

Dritter Schritt: Erfüllung der Offenlegungspflichten bei bejahtem Geheimhaltungserfordernis: Nachvollziehbare Umschreibung des wesentlichen Inhalts geheimhaltungsbedürftiger Informationen

 

Auch wenn ein Geschäftsgeheimnis oder eine sonst geheimhaltungsbedürftige Information bejaht wird, setzt sich dadurch der Geheimnisschutz nicht vollends gegen die beschriebenen Offenlegungspflichten durch. Denn der EuGH hält es dann für erforderlich, dass der Auftraggeber die grundsätzlich geheimhaltungspflichtigen, aber vergabeentscheidenden Tatsachen „anonymisiert“, aber doch so konkret umschreibt, dass der unterlegene Bieter seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verfolgen kann. Letzterer muss anhand der Umschreibung der geheimhaltungsbedürftigen Inhalte noch hinreichend beurteilen können, ob die Wertungsentscheidung des Auftraggebers rechtskonform ist.

 

Das halten wir für eine echte Herausforderung, die zu bewältigen in der Praxis schnell an Grenzen stoßen wird. Das scheint auch der EuGH gesehen zu haben. Denn er räumt dem Auftraggeber das Recht ein, vom erfolgreichen Bieter eine „nicht vertrauliche Fassung der Dokumente“ zu verlangen, die vertrauliche Informationen enthalten. Ob sich eine solche Vorgehensweise in der Praxis bewährt, sehen wir skeptisch. Denn es bleibt bei der Verantwortung des Auftraggebers, dem unterlegenen Bieter hinreichende Informationen zugänglich zu machen. Er wird sich regelmäßig mit – nach EuGH-Maßstäben – zu abstrakten Offenlegungsfassungen des erfolgreichen Bieters konfrontiert sehen. Die Abstimmung solcher Fassungen wird jedenfalls zusätzlichen Aufwand und Zeit im Vergabeverfahren erfordern. Wichtig für die Zeitplanung zu bedenken.

 

Folgen der Verletzung der Begründungs- und Offenbarungspflichten

 

Der EuGH beschreibt auch die Folgen für den öffentlichen Auftraggeber, wenn er seinen Offenlegungspflichten im Rahmen der Vorabinformation nicht ordnungsgemäß nachkommt. Dann muss sich der unterlegene Bieter zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht auf einen verspäteten Rechtsbehelf verweisen lassen. Das Gericht muss vielmehr einen formal verspäteten Rechtsbehelf zulassen und die Vergabeentscheidung des öffentlichen Auftraggebers muss dann in diesem Punkt weiterhin voll überprüfbar bleiben und ggfs. auch von der Nachprüfungsstelle beanstandet werden können.

 

Ferner verweist der EuGH darauf, dass rechtsbehelfsrelevante Fristen erst zu laufen beginnen, wenn der betreffende Bieter Zugang zu allen Informationen hat, die ihm zu Unrecht unter Verweis auf Vertraulichkeitsvorschriften verwehrt worden waren. In deutsches Recht zum Nachprüfungsverfahren übertragen könnte das zur Konsequenz haben, dass die Wartefrist nach § 134 GWB nicht zu laufen beginnt, solange das Informationsschreiben nicht alle offenlegungspflichtigen Informationen enthält. Auch mit der Folge, dass ein dann vorzeitig erteilter Zuschlag nach § 135 Abs. 1 GWB nur schwebend wirksam ist. Ob seine endgültige Wirksamkeit dann nach Ablauf der Fristen in § 135 Abs. 2 GWB eintritt, halten wir mit Rücksicht auf die Betonung der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch den EuGH eher für fraglich.

 

Fazit

 

Soweit wir das von hier aus übersehen können, werden bisher die wenigsten Informationsschreiben nach § 134 GWB dem Anspruch des EuGH gerecht, insbesondere wenn öffentliche Auftraggeber konzeptionelle Beschreibungen der Bieter zur Bewertung der Qualität der von ihnen angebotenen Dienstleistung nutzen.
Nimmt man die Anforderungen des EuGH ernst, werden öffentliche Auftraggeber deutlich mehr Ressourcen für die zeitlichen Abläufe am Ende eines Vergabeverfahrens einplanen und in die Tiefe der Begründung ihrer Wertungsentscheidungen, einschließlich der Zusammenstellung offenlegungspflichtiger Inhalte des Zuschlagsangebotes, investieren müssen.

 

Es lässt sich noch nicht absehen, was die deutschen Gerichte letztlich aus dieser EuGH-Entscheidung machen werden. Wir halten es aber mit Rücksicht auf die Ausführungen des EuGH zum effektiven Rechtsschutz nicht für ausgeschlossen, dass die Regelung in § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB deutlich häufiger über eine unionsrechtskonforme Anwendung von § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB relativiert wird. Ferner halten wir es für möglich, dass – anders als bisher – Verstöße gegen § 134 GWB zur Grundlage umfassender Auskunfts- und Offenlegungsansprüche im Vergabenachprüfungsverfahren gemacht werden, infolge deren Erfüllung (über die Akteneinsicht) dann erst im laufenden Nachprüfungsverfahren substantiierte Einwände gegen die Wertungsentscheidung erhoben und formuliert werden können.

 

Von großem Interesse wird schließlich sein, ob sich die hier formulierten Grundsätze auch auf Auftragsvergaben übertragen lassen, die von den Vergaberichtlinien (und damit auch vom Anwendungsbereich der Rechtsmittelrichtlinie) ausgenommen sind, aber den Anforderungen der Grundsätze des Unionsprimärrechts aus dem Binnenmarkt und der Nichtdiskriminierung des AEUV unterliegen. Zwar knüpft der EuGH seine Ableitungen in erster Linie an das Richtlinienrecht. Daneben greift er aber auch auf den primärrechtlichen Grundsatz der „Guten Verwaltung“ zurück, was die Anforderungen an die Begründung von Auswahlentscheidungen betrifft. Das könnte man als Verweis des EuGH darauf verstehen, dass seine Erwägungen auch bei „lediglich“ binnenmarktrelevanten Auftragsvergaben Geltung haben werden.

 

Dr. Markus Bach
(Rechtsanwalt)


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